Wie jeden Morgen ging Manolo früh aus dem Haus. Es dämmerte bereits leicht. Die wenigen Straßenlaternen erhellten die sonst dunkle Umgebung ein wenig. Bis auf die Badehose, an der eine Schwimmbrille klemmte, hatte Manolo nichts an. In Badelatschen und mit einem Handtuch über der Schulter lief er durch die enge Straße zwischen den Hauswänden entlang bis vor zur Mole. Mehrmals plusterte er seine Backen auf. Eine seiner vielen Marotten.
Sein Weg führte über die Mole zu den natürlichen Meerespools von El Agujero, einem kleinen Dorf im Nordwesten von Gran Canaria. Nun mehr seit über zwanzig Jahren schwamm er jeden Morgen dort. Eine Hommage an seine unter mysteriösen Umständen verstorbene Ehefrau Maria, die dort jeden Morgen schwimmen ging. Damals ging er selten mit ihr mit, obwohl sie ihn jedes Mal fragte. Aber er war kein Frühaufsteher gewesen. Seither hat er keinen einzigen Tag ausgelassen. Selbst wenn er krank war ging er zum Schwimmen. Oder wie an diesem Tag, seinem Geburtstag.
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Manolo stand am Beckenrand, setzte die Schwimmbrille auf und blies die Backen auf. Anschließend zog er seine Badehose aus und machte einen flachen Kopfsprung. Das Becken war nicht tief, für einen Köpfer ungeeignet. Aber Manolo hatte Erfahrung. Er tauchte auf und fing sogleich mit einem beherzten Kraulschlag an. Im Wasser merkte man ihm seine 77 Jahre noch weniger an als an Land. Er schwamm wie ein junger Fisch voller Energie. Seine Bewegungen waren flüssig, seine Atmung konstant. Er glitt förmlich über das Wasser.
Da schwamm er also seine Bahnen, der heute 77 Jahre alt gewordene Manolo, der von sich selbst behauptete, mehr Fisch als Mensch zu sein. Das Wasser sei sein Element. Aus dem Wasser komme alles und ins Wasser gehe alles wieder zurück. Mutterseelenallein gab er sich seiner morgendlichen Schwimmroutine hin, die ihn in eine Art Meditation versetzte. Für gut zehn Minuten fühlte er sich seiner geliebten Maria wieder nahe. Er brauchte diese tägliche Maria-Dosis.
Doch plötzlich stieß er inmitten des Beckens gegen etwas, das ihn prompt aus seiner Erinnerungs-Meditation holte. Er stellte sich im Wasser auf, das ihm knapp bis über die Hüften ging, und zog die Brille auf die Stirn. Vor ihm trieb ein lebloser Körper.
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Es war bereits später Vormittag als Kriminalpolizist Ortega gegenüber von Manolo in dessen Wohnzimmer saß. Wenige Minuten zuvor hatte Ortega vor Manolos Haustür gestanden. Franz, Manolos Lebenspartner, machte ihm auf. „Hallo, wie kann ich Ihnen helfen“, fragte Franz den Unbekannten an der Tür. Ortega wies sich aus und hielt eine Badehose hoch. Ob sie ihm gehöre? Franz erkannte sofort, dass es Manolos Badehose war. Manolo war also schon wieder nackt nach Hause gelaufen. Es wäre gelogen zu sagen, dass es sich um eine weitere Marotte hielt. Es war viel einfacher. Manolo vergaß ab und an schlichtweg nach dem Schwimmen die Badehose wieder anzuziehen. In letzter Zeit passierte ihm das öfters.
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„Herr Argano, können sie mir bitte erklären, was ihre Badehose am Beckenrand zu suchen hatte“, fragte Ortega. Aber Manolo hatte keine Lust mit Ortega zu sprechen. Er solle ihn in Ruhe lassen, er wolle lieber das Buch „111 Orte auf Gran Canaria, die man gesehen haben muss“ lesen, dass ihm Franz zum Geburtstag geschenkt habe. Seine Maria hätte bestimmt alle Orte gekannt. Er hingegen kannte beim ersten Durchblättern auf Anhieb mehrere nicht. Maria liebte es die Insel zu erkunden, Manolo ging selten mit. Er hatte sich vorgenommen das nun zu ändern und mit seinem Enkel Leo auf Entdeckungstouren zu gehen.
„Herr Argano, ich frage sie ein letztes Mal, warum haben wir ihre Badehose am Beckenrand gefunden?“. Manolo dachte nicht eine Sekunde darüber nach Ortega zu antworten. Dafür tat es Franz. Er erzählte Ortega von Manolos Morgenroutine, dem Nacktschwimmen und dem gelegentlichen Vergessen der Badehose. Das Alter mache ihn vergesslich. „Haben sie den Körper nicht bemerkt, Herr Argano“, fragte Ortega unzufrieden. Manolo schüttelte den Kopf. Alles sei so wie immer gewesen.
Ortega war noch nicht lange bei der Kriminalpolizei. Auch sah seine Lebensplanung das gar nicht vor. Es war seine jetzige Kollegin Sandra, die erfahrenste Kriminalpolizistin der Insel, die in dem jungen Polizisten Ortega großes Potenzial sah und ihn in die Richtung der Kriminalpolizei schubste.
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„Hallo Sandra, ich fahre mit leeren Händen zurück“, schnaufte Ortega in die Freisprechanlage auf dem Weg zurück nach Las Palmas de Gran Canaria. Er solle Geduld haben, besänftigte sie ihn. Was er denn bisher in Erfahrung hat bringen können? Ortega zählte auf: eine Leiche, männlich, weiß, zwischen 60 und 70 Jahre, in einem Meerespool von Jugendlichen entdeckt, Todesursache unklar, wahrscheinlich Ertrinken, Todeszeitpunkt unbekannt, aller Voraussicht nach in der vorangegangenen Nacht. „Ach ja, und eine Badehose auf dem Beckenrand.“ „Vom toten Mann?“, fragte Sandra. Ortega verneinte. Der Mann sei angezogen gewesen. Hose, Hemd, Jacke. Alles in gepflegtem Zustand. Die Badehose stamme von einem gewissen Manolo Argana, einem alten Dorfbewohner, der dort täglich nacktschwimme. „Weiß dieser Manolo etwas?“, hakte Sandra nach. „Er sagt, es wäre alles so wie immer gewesen“, antwortete Ortega. „Du glaubst ihm nicht“, hakte Sandra erneut nach. „Irgendetwas verschweigt er.“
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Einen Kaffee und ein Sandwich später, stand Ortega in der Rechtsmedizin. Die Todesursache bestätigte sich: Ertrinken. Auch der Todeszeitpunkt war gut geschätzt gewesen: gegen Mitternacht. Und es kam heraus, dass der Mann eine frische Kopfverletzung hatte. Die große Überraschung war jedoch der Tote selbst: Der Bananenmogul Don Grimaldo Lopez de la Fuente.
Sandra und Ortega saßen im Auto vor einem großen verschlossenen Tor.
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Sandra hielt ihren Polizeiausweis in die Kamera der Freisprechanlage. Dann ging das Tor langsam auf. Ein großes Anwesen in Maspalomas eröffnete sich vor ihren Augen. Ein Sicherheitsmann nahm sie in Empfang. „Folgen sie mir, Doña Esmeralda kommt gleich zu ihnen“, nahm er Sandra und Ortega mit in den ersten Stock auf die Außenterrasse. Von dort aus hatten sie einen guten Blick auf den Swimmingpool, in dem Doña Esmeralda gerade schwamm. „Noch nie eine nackte Frau schwimmen gesehen“, stupste Sandra Ortega an, der wie angewurzelt nach unten auf den Pool starrte.
Eine geschlagene halbe Stunde später tauchte Doña Esmeralda mit nassen Haaren im Bademantel auf. Ortega übermittelte ihr sogleich die Nachricht über den Tod ihres Mannes Grimaldo. Doña Esmeralda zeigte nicht eine einzige Gefühlsregung. Als ob ihr Ortega gerade den aktuellen Wetterbericht vorgelesen hätte. Ortega suchte Blickkontakt mit Sandra. „Endlich ist er tot, dieser Schweinehund“, brach es aus Doña Esmeralda heraus.
Und fuhr aufgeregt fort. „Fragen sie mich erst gar nicht, was ich letzte Nacht gemacht habe. Ich war hier zu Hause. Alleine mit meinem Sohn. Wie fast immer. Er hingegen, war sicherlich wieder bei einem jungen Mädchen und vergnügte sich.“ Sandra versuchte Doña Esmeralda zu beruhigen und fragte, ob Grimaldo Feinde hatte. „Natürlich hatte er Feinde. Jede Menge sogar. Es gab kaum jemanden, der ihn nicht hasste“, antwortete Doña Esmeralda. Ortega fragte nach Namen.
„Das reicht jetzt. Ich muss Sie bitten mein Grundstück zu verlassen“, richtete sie ruhig und bestimmt das Wort an die beiden. „Aber Doña Esmeralda“, versuchte Ortega das Gespräch wieder aufzugreifen. Aber Doña Esmeralda war resolut. „Tomás geleitet sie nach draußen!“ Sie kehrte den beiden den Rücken zu und verschwand im Haus.
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„Schatz, wir müssen los“, sagte Franz in Richtung Manolo, der sich gerade die Schuhe zuband und nun apathisch gegen die Wand starrte. Ins Wasser kehrt alles zurück, murmelte Manolo leise vor sich hin. „Was sagst du?“, fragte Franz nach. Manolo war weiterhin vollkommen abwesend. Franz beugte sich zu ihm runter und legte seine Hand auf seine Schulter. „Manolo, fühlst du dich nicht gut?“
Doña Esmeralda betrat das Restaurant an der Küste der Gemeinde Telde im Westen der Insel, in dem ihr Vater für diesen Abend einen Tisch reserviert hatte, um seinen siebenundsiebzigsten zu feiern. „Da bist du endlich, mein Schatz. Komm, meine Süße, wir haben viel zu feiern!“. Rolando G. Suárez
... Fortsetzung Teil 2 in Viva Canarias Nr. 153 am 1. Juli 2019.