„Diese Familien machen mich verrückt!“ Ortega wollte es schreien, sagte es aber zu sich selbst. „Wie können Familien so dermaßen kaputt sein? Ist es das Geld? Ist es der Druck der Konkurrenz?“ Er wusste, dass er sich an solche menschlichen Schicksale wird gewöhnen müssen, schließlich wird die Kriminalpolizei nicht zu Cocktailpartys und Kindergeburtstagen gerufen. Sandra hörte ihn, antwortete jedoch nicht. Er hatte ihr nie alles über seine Kindheit erzählt, aber es war genug, um sich ein Bild zu machen. Es war kein schönes Bild.
Als Ortega Antonio und seinen Vater Francisco Colon kennenlernte, die Bananenkonkurrenten des Toten Grimaldo Lopez de la Fuente, musste er seinen Körper nach wenigen Sekunden zwischen sie stellen. Sie warfen sich verbal einiges an den Kopf. Francisco blieb dabei provokant ruhig, Antonio verhielt sich komplett gegenteilig. Ortega blieb die ganze Zeit zwischen den beiden und versuchte die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
So explosionsartig Antonio gegenüber seinem Vater sein konnte, sobald er sich an Ortega wandte, war er ruhig und gelassen. Ortega wurde schnell klar, dass weder Antonio noch Francisco an Grimaldos Tod beteiligt waren. Die Colon-Familie musste verkaufen, der Schuldenberg war nicht mehr zu tilgen. Antonio war lediglich verärgert, dass sein Vater all seine Vorschläge ignorierte und ihn nicht an den Verhandlungen teilnehmen ließ. Francisco zeigte Ortega die Unterlagen, Grimaldo hätte am meisten bezahlt. Sein schärfster Konkurrent hatte letztlich der Colon-Familie helfen wollen. Ortega lernte, dass das Bananengeschäft hart war, und dass es Familien zu zerstören schien.
Seinen eigenen Vater zu schlagen ist wohl nicht viel anders als seinen eigenen Sohn zu schlagen. Ortega war beides höchst zuwider.
„Sind wir wieder bei null angekommen?“ Ortega konnte den angewiderten Ton kaum verbergen. Sandra hatte einen guten Tag, wollte aktiv werden. „Soll vielleicht lieber ich mit dem Pförtner sprechen? Ruhe dich aus, nach der Begegnung gestern Abend hast du eine kurze Pause verdient.“ Ortega nickte nur, nahm seine Schlüssel vom Tisch und ging.
„Nennen Sie mich doch einfach Tomás.“ Der Pförtner war wie „La Barra“ gebaut, das natürliche Riff am Stadtstrand Las Canteras von Las Palmas de Gran Canaria. Auch an ihm würden die Wellen brechen. „Tomás, Sie erwähnten gegenüber meinem Kollegen Ortega, dass der Junge Julio ein gutes Verhältnis zu seinem Vater Grimaldo hatte? Ganz im Gegensatz zu dem, was Julio selbst und vor allem seine Mutter Esmeralda sagt?“
Tomás hatte ein äußerst freundliches Gesicht. Ein Blick in die Akten verriet, dass er aber auch ein anderes Gesicht hatte. Zwei Anzeigen wegen Körperverletzung. Beide Male wurde die Anklage vor Prozessbeginn zurückgezogen. Zuvor drei Jahre bei der Marine, davon zwei auf der Juan Carlos I. Alles dazwischen war unbekannt.
„Ich weiß nicht wovon Sie sprechen. Ich bin lediglich der Pförtner. Haben Sie einen Termin vereinbart? Ich finde nichts in meinen Unterlagen.“ Sarah rollte mit den Augen. Was ist das für eine komische Reaktion? „Sie haben einen Platten! Ich helfe Ihnen!“ Tomás lief um das Auto herum und ließ Sandra verdutzt stehen.
„Hören Sie, ich kann es mir nicht leisten meinen Job zu verlieren. Ich werde gut bezahlt, die Arbeit ist ungefährlich und ich habe geregelte Arbeitszeiten. Entweder tauschen wir jetzt einen dieser Hinterreifen und ich erzähle Ihnen was ich weiß oder sie gehen und lassen mich in Ruhe.“
Es machte wenig Sinn für Sandra was Tomás daraufhin erzählte. Julio hätte nicht einfach nur ein gutes Verhältnis zu seinem Vater Grimaldo gehabt, sie hätten eine starke Bindung gehabt. Er wisse nicht, warum Julio in der Schule und auch gegenüber Ortega Gegenteiliges erzählt hätte. Er wisse aber, dass die Vater-Sohn-Beziehung intakt gewesen wäre. Vielleicht stecke die Mutter Esmeralda dahinter.
„Erzählen Sie mir mehr über Esmeralda“, forderte Sandra Tomás auf. Doch Tomás blockte ab, „ich rede mich hier um Kopf und Kragen. Ich kann nichts Schlechtes über die Patrona sagen. Sie war es, die mir den Job gegeben hat, als mich sonst keiner einstellen wollte. Sie bezahlt gut und pünktlich. Dass sie mit ihrem Mann kein gutes Verhältnis hatte war offensichtlich, aber das geht mich nichts an. Wenn sie was wissen wollen, sprechen sie mit dem Vater der Patrona. Er wohnt im Norden, in dem kleinen Küstendorf El Agujero.“
Sandra horchte auf. „In El Agujero? Dort wurde Grimaldo gefunden! Wie heißt er?“ „Manolo Argano. Er war in letzter Zeit weniger hier, aber er hat hier oft Zeit mit seinem Enkel verbracht.“
Nachdem sich Sandra bei Tomás bedankte und verabschiedete, rief sie sofort Ortega an. „Du glaubst nicht, wer der Vater der Frau des Opfers ist!“ Wie aus dem Nichts sagte Ortega „Manolo Argano!“ Sandra schwieg. „Ich übernehme“, sagte Ortega.
Manolo und Franz aßen gerade zu Mittag, als Manolo plötzlich in sich zusammensackte. Franz konnte ihn gerade noch so auf dem Stuhl festhalten. „Was ist los Manolo“ fragte Franz mit besorgter Miene. „Mir ist schwindelig, ich fühle mich komisch.“ „Ich rufe den Notarzt. Und jetzt komm, ich bringe dich ins Bett. Es ist besser wenn du liegst.“
Nachdem Franz den Notarzt angerufen hatte, setzte er sich wieder zu Manolo ans Bett. Manolo murmelte etwas vor sich hin. „Was sagst du“, fragte Franz. Doch Manolo murmelte so unverständlich, dass Franz nichts verstehen konnte. Dann klingelte es an der Türe. „Das ging aber schnell“ ging Franz davon aus, dass der Notarzt an der Tür stand.
„Hallo, ich muss mit Herrn Argano sprechen!“ Was will denn jetzt der hier, dachte sich Franz. „Sie haben beide verschwiegen, dass es sich bei Grimaldo um den Ehemann von Herrn Arganos Tochter Esmeralda handelt.“ „Manolo ist krank, ihm geht es nicht gut, er hatte soeben einen Herzinfarkt.“ „Lassen Sie mich rein“, ging Ortega forsch durch die Tür.
Ortega richtete mehrmals das Wort an Manolo, aber es kam keine Reaktion. Er lag seelenruhig auf dem Bett. Nur sein angestrengter Atem verriet, dass er nicht tot war. Wenig später traf der Notarzt ein und Manolo wurde auf einer Trage aus dem Haus gerollt. Na, super, dachte sich Ortega und knöpfte sich Franz vor.
„Manolo ist kein Mörder. Er ist alt und dement. Er hat nicht mehr lange.“ „Sie decken ihn! Ihnen ist klar, dass Sie sich damit strafbar machen?“ „Ich decke niemanden, Manolo ist unschuldig!“ Ortega verließ das Haus und ermahnte Franz, dass die Sache noch nicht vorbei wäre.
Esmeralda betrat eilig Manolos Krankenzimmer. „Was ist passiert Franz, geht es ihm gut?“ „Er ist einfach zusammengeklappt. Aber die Ärzte meinen, er sei jetzt stabil.“ Esmeralda neigte sich zu Manolo herunter, gab ihm einen Kuss und drückte feste seine Hand. „Papa, ist alles gut?“ Manolo drückte fest gegen Esmeraldas Hand.
Am nächsten Morgen ging Ortega ins Krankenhaus, um mit Manolo zu sprechen. Er war kaum bei Kräften, brachte die Worte nur schwer heraus und war kaum zu verstehen. „Grimaldo klingelte in der Nacht zuvor. Wir gingen spazieren. Ich war nicht gut auf ihn zu sprechen. Meine Tochter litt sehr unter ihm. Er wollte mir weißmachen, dass Esmeralda verrückt geworden sei und in eine Klinik eingewiesen werden muss. Erzählte mir irgendwelche haltlosen Geschichten über sie. Er wollte seine eigenen Probleme auf meine Tochter projizieren.“ Ortega hörte gespannt zu und versuchte alles zu verstehen.
„An mehr kann ich mich nicht erinnern. Wir liefen an den Becken entlang und plötzlich war er nicht mehr da. Ich ging einfach weiter. Zu Hause setzte ich mich vor den Fernseher und wartet bis Franz von der Arbeit im Casino zurückkam.“ „Was heißt denn plötzlich verschwunden? Haben Sie nicht nach ihm gesehen? Nach ihm gerufen?“ „Ich bin nach Hause, habe mir nichts weiter gedacht.“ „Haben Sie ihn ins Becken geschubst?“ „Er war plötzlich nicht mehr da.“ „Ist er ins Becken gefallen? Sie hätten doch hören müssen wie er ins Becken gefallen ist!“ „Was sagen Sie?“ „Haben Sie nichts gehört?“ „Mein Gehör ist nicht mehr so gut.“
Manolo bekam einen starken Hustenanfall. Eine Krankenschwester kam hinein und bat Ortega hinaus. Draußen vor der Tür ging er alles nochmal in Gedanken durch. Die Sache war eindeutig, ob er Grimaldo nun ins Becken geschubst hatte oder nicht, Grimaldo schlug sich den Kopf an, wurde bewusstlos und ertrank. Es war mindestens unterlassene Hilfeleistung. Ortega atmete ordentlich durch und entschied sich erstmal zu gehen.
Auf dem Flur kam ihm Esmeralda entgegen. Sie torkelte mit Sonnenbrille und verschmiertem Gesicht in einem freizügigen Ausgehdress und High-Heels an Ortega vorbei ohne ihn zu erkennen. Ortega drehte sich um und sah ihr einen langen Moment hinterher und fragte sich nur, warum ihr Sohn nicht dabei war.
Ende
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Rolando G. Suárez